Dienstag, 8. November 2016

Der Verfall

Die Momente häufen sich in den letzten Monaten, in denen ich nicht begreifen kann, warum sich mein Körper dagegen wehrt, sich zu erheben. Er ist zu einer destruierten Maschine, ähnlich dressierten Robotern, die ihr Werk nicht mehr verrichten, geworden. Zerschunden von jahrzehntelanger Ausbeutung, liege ich bleiern im Bett. Rühre mich nicht. Von Leben zeugt nur noch mein Puls, der wie Ratten durch Korridore einer verlassenen Fabrik davon rennt. Sie irren um den Schrott meiner Vergangenheit, der sich im Chaos verteilt, umher. Wahllos liegen voll gestopfte Kisten mit rohen Erinnerungen aus alten Zeiten auf Werkbänken herum. Sie sind verwahrlost in meinem Kopf zurückgelassen, noch nicht verarbeitet. Überall in meinem Zimmer türmt sich zerbrochenes Glas aus eingeworfenen Fenstern. Schutt aus einer mühselig aufgebauten, nun zerborstenen Zukunft.

Ich beglotze mein Spiegelbild, wie es sein Spiegelbild beglotzt. Meine Fassade wirkt nicht mehr. Nicht einmal ein neuer Anstrich würde hier noch helfen. Unzähmbare Risse ziehen ihre Wege an der Wand entlang. Langsam bricht es in mir ein. Der Verfall fängt immer zuerst an der Decke an. Anfangs rieseln feine Staubkörner langsam, wie weicher warmer Schnee, zum Boden herab. Solange bis Staubkörner zu Steinen werden und Steine zu festen Brocken, und diese dann immer größere Löcher zum schwarzen Himmel hinauf freigeben. Die Lieferungen der Paletten mit Leben sind schon lange ausgeblieben. Leidenschaft liegt verpackt in Containern und wurde nicht mehr rechtzeitig verschickt. Es bewegt sich nichts mehr in mir, es verfällt, es ist nur noch.
Wie lange kann ich wohl in meinem Bett liegen bleiben, bis ich den Mut finde, mich zu erheben. Es fühlt sich kalt, so machtlos an, in dieser Position auf dem Rücken in Richtung Decke blickend verharren zu müssen. Unendlich lange scheint es her zu sein, dass sich Besucher an diesen Ort der Verwüstung verloren. Sie kommen nicht mehr zu mir, weil ich meine Augenlider mit schweren Eisentüren fest verschloss. Sicherheitshalber habe ich an der verlassenen Pforte ein Schild angebracht: ‚Betreten strengstens Verboten!’

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